Vielleicht hast du es im Film gesehen: Ein Künstler im 19. Jahrhundert, Augen weit aufgerissen, blickt auf eine leere Flasche Absinth - und dann beginnt die Welt zu tanzen. Die Legende sagt, Absinth mache dich wahnsinnig. Dass es Halluzinationen auslöst. Dass es mehr ist als nur ein Alkoholgetränk - dass es ein Tor zu einer anderen Realität ist. Doch was ist dran an dieser Geschichte? Halluzinieren Menschen wirklich durch Absinth?
Was ist Absinth wirklich?
Absinth ist ein hochprozentiger Kräuterlikör, der traditionell aus Wermut, Anis und Fenchel destilliert wird. Sein charakteristischer grüner Farbton kommt von den chlorophyllhaltigen Kräutern, die nach der Destillation hinzugefügt werden. Der Alkoholgehalt liegt meist zwischen 45 und 74 Prozent - das ist deutlich stärker als Wein oder Bier. Aber er ist kein Drogenmittel. Er ist Alkohol. Mit Kräutern.
Der Schlüssel zur Legende ist Wermut. In ihm steckt ein Stoff namens Thujon. In hohen Dosen kann Thujon neurotoxisch wirken - das ist wissenschaftlich belegt. Aber: Die Menge in echtem Absinth ist winzig. Selbst in historischen Rezepturen aus dem 19. Jahrhundert lag der Thujongehalt bei maximal 35 Milligramm pro Liter. Moderne Absinthe in der EU dürfen maximal 10 Milligramm pro Liter enthalten - in den USA sogar nur 10 mg/l, und das nur, wenn sie als „thujonfrei“ deklariert sind.
Um eine halluzinogene Wirkung durch Thujon zu erreichen, müsstest du so viel Absinth trinken, dass du vorher an Alkoholvergiftung stirbst. Ein Mensch würde etwa 1 Liter Absinth trinken müssen, um eine Thujondosis zu erreichen, die theoretisch neurologische Effekte auslösen könnte. Das ist physikalisch unmöglich - der Körper würde sich wehren, bevor das passiert.
Warum glaubten Menschen damals an Halluzinationen?
Im 19. Jahrhundert war Absinth ein Massenphänomen. In Frankreich trank jeder zweite Mann täglich einen Schluck. Arbeiter, Künstler, Soldaten - alle tranken es. Aber es war nicht der Absinth allein. Es war die Kombination aus:
- Extrem hohem Alkoholgehalt - oft ohne Kontrolle
- Verunreinigten Produkten - viele billige Absinthe enthielten giftige Zusätze wie Kupfersulfat (für die grüne Farbe), Antimon oder Methanol
- Mangelernährung - viele Trinker lebten in Armut, mit schlechter Ernährung und schlechter Hygiene
- Psychologischer Druck - die Gesellschaft machte Absinth zum Sündenbock für alle sozialen Probleme
Ein Arbeiter, der nach 14 Stunden Schicht einen Schluck Absinth trank, der aus einer illegalen Brennerei kam und mit Kupfer angereichert war - der bekam Kopfschmerzen, Übelkeit, Krämpfe. Und wenn er dann halluzinierte, lag das nicht am Wermut. Es lag am Kupfer. Am Methanol. Am Alkohol. An der Verzweiflung.
Die sogenannte „Absinth-Epilepsie“ war in Wirklichkeit eine chronische Alkoholvergiftung mit Vergiftungssymptomen durch Schwermetalle. Ärzte damals wussten das - aber sie sagten es nicht laut. Es war einfacher, den Absinth zu beschuldigen, als die industrielle Armut zu bekämpfen.
Was passiert wirklich, wenn du Absinth trinkst?
Wenn du heute einen echten, legalen Absinth trinkst - ohne Zusatzstoffe, ohne Schadstoffe - dann passiert Folgendes:
- Du spürst die Wirkung des Alkohols - wie bei jedem anderen Schnaps
- Dein Körper verarbeitet die Kräuter - Anis und Fenchel wirken leicht beruhigend, manche sagen, sie verleihen eine „klare Wirkung“
- Die sogenannte „Lichtwirkung“ - wenn du den Absinth mit Wasser verdünnst, wird er trüb (die sogenannte „Louche“). Das ist ein rein physikalischer Effekt, weil die ätherischen Öle sich nicht mehr im Wasser lösen
- Einige Menschen berichten von erhöhter Wahrnehmung, Klarheit, kreativer Energie - das ist keine Halluzination. Das ist die Wirkung von Alkohol in moderater Dosis, kombiniert mit einer angenehmen Ritualisierung des Trinkens
Es gibt keine wissenschaftliche Studie, die gezeigt hat, dass Absinth allein Halluzinationen auslöst. Keine. Nicht in der Vergangenheit. Nicht heute. Die einzigen Berichte über Halluzinationen stammen aus Zeiten, in denen der Absinth mit Gift verunreinigt war - oder in denen Menschen andere Drogen nahmen und es dem Absinth zuschrieben.
Der Mythos der grünen Fee
Warum hält sich der Mythos so hartnäckig? Weil er gut ist. Weil er romantisch ist. Weil er Geschichten erzählt - von Van Gogh, die sein Ohr abschnitt, von Baudelaire, der in Drogen träumte, von Oscar Wilde, der sagte: „Nach dem ersten Glas sieht man, wie alles schön ist. Nach dem zweiten sieht man, wie alles Wahrheit ist. Nach dem dritten sieht man, wie alles ein Traum ist.“
Das ist Poesie. Das ist Literatur. Das ist kein Laborbericht.
Van Gogh litt an Epilepsie und Psychosen - er trank auch Wein, Opium, Tabak. Er nahm auch Farben in den Mund, um die Farbintensität zu spüren. Seine Halluzinationen hatten mehr mit Neurologie zu tun als mit Absinth. Baudelaire schrieb über Haschisch. Wilde war ein Genie, aber kein Wissenschaftler.
Die grüne Fee - die „La Fée Verte“ - ist eine Metapher. Sie steht für Freiheit, Kreativität, Rebellion. Sie steht für die Sehnsucht nach etwas, das jenseits der Normalität liegt. Aber sie ist keine Droge. Sie ist eine Geschichte. Und wie jede gute Geschichte, hat sie sich selbst vergrößert.
Was ist heute sicher?
Heute ist Absinth in der EU, den USA und der Schweiz legal - und streng reguliert. Die Hersteller müssen nachweisen, dass ihre Produkte keine gesundheitsschädlichen Mengen an Thujon enthalten. Die meisten modernen Absinthe enthalten weniger Thujon als eine Tasse Wermuttee.
Was du bekommst, wenn du heute Absinth trinkst:
- Einen starken, aromatischen Kräuterlikör
- Eine jahrhundertealte Tradition des Trinkrituals
- Die Möglichkeit, dich mit der Kultur der Belle Époque zu verbinden
- Keine Halluzinationen - es sei denn, du trinkst so viel, dass du dich selbst verlierst
Wenn du einen Absinth probierst, tu es bewusst. Verwende Wasser, Zucker und ein spezielles Sieb. Lass den Alkohol langsam abkühlen. Schmecke die Kräuter. Genieße den Duft. Spüre, wie sich der Geschmack verändert.
Dann wirst du merken: Der Wahnsinn war nie im Glas. Er war in der Welt drumherum.
Warum wird Absinth noch immer missverstanden?
Weil es einfacher ist, einem Getränk die Schuld zu geben, als den Menschen, die es trinken, zuzuhören. Weil es einfacher ist, einen Mythos zu verbreiten, als eine komplexe Geschichte zu erzählen. Weil die Medien damals und heute immer noch lieber über „gefährliche Drogen“ schreiben als über Alkoholmissbrauch, Armut oder psychische Erkrankungen.
Absinth ist kein Drogenmittel. Es ist ein Alkohol. Mit Geschichte. Mit Aroma. Mit Ritual. Und mit einer Menge Fehlinformationen, die sich wie ein Nebel um ihn gelegt haben.
Wenn du Absinth trinkst - trink ihn mit Respekt. Nicht aus Angst. Nicht aus Neugier auf Halluzinationen. Sondern weil du ihn schätzt. Weil du die Kräuter riechen willst. Weil du die Zeit zurückdrehen willst. Weil du eine Flasche mit 200 Jahren Geschichte öffnest - und nicht eine Droge.
Und wenn du danach nicht die Welt siehst, wie sie nicht ist - dann bist du nicht enttäuscht. Du bist wach. Und das ist die echte Magie.
Kann Absinth wirklich Halluzinationen auslösen?
Nein, nicht durch den natürlichen Inhaltsstoff Thujon. Die Menge, die in modernem Absinth enthalten ist, ist zu gering, um neurologische Wirkungen zu haben. Historische Berichte über Halluzinationen stammen aus Zeiten, in denen Absinth mit giftigen Zusatzstoffen wie Kupfer oder Methanol verunreinigt war. Die echte Wirkung kommt vom Alkohol - nicht von einer Droge.
Ist Absinth heute legal?
Ja, Absinth ist in der EU, den USA und der Schweiz legal - aber mit strengen Grenzwerten für Thujon. In der EU darf ein Liter Absinth maximal 10 Milligramm Thujon enthalten. In den USA gelten ähnliche Regeln. Moderne Absinthe werden nach strengen Lebensmittelstandards hergestellt und sind sicher zum Konsum.
Warum wurde Absinth früher verboten?
Absinth wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern verboten, weil er als Ursache für soziale Probleme, Kriminalität und Geisteskrankheiten galt. Doch die wissenschaftliche Grundlage war schwach. Die Verbote wurden von der Weinindustrie unterstützt, die durch Absinth Konkurrenz bekam. Auch die damalige Prohibitionsbewegung nutzte Absinth als Symbol für moralischen Verfall - obwohl die eigentlichen Ursachen Armut, schlechte Ernährung und Verunreinigungen waren.
Was ist der Unterschied zwischen Absinth und Wermut?
Wermut ist eine Pflanze, die als Zutat in Absinth verwendet wird. Absinth ist ein Destillat aus Wermut, Anis und Fenchel - oft mit weiteren Kräutern. Wermuttee ist ein Kräuteraufguss, der nur aus Wermutblättern besteht. Absinth ist stark alkoholisch (45-74 %), Wermuttee nicht. Beide enthalten Thujon - aber in sehr unterschiedlichen Mengen.
Wie trinkt man Absinth richtig?
Traditionell wird Absinth mit einem Stück Zucker auf einem speziellen Sieb platziert. Kalt Wasser wird langsam über den Zucker geträufelt, bis sich der Absinth trüb wird (Louche-Effekt). Der Zucker löst sich auf und mildert den Alkohol. Das Ritual dauert 5-10 Minuten. Niemals mit Feuer - das ist ein moderner Touristen-Trick. Der echte Genuss liegt in der langsamen Verdünnung.